Der Christbaum war, wie immer, in letzter Minute fertig geschmückt, ich zog ein schwarzes Kleid an und rannte in die 8 Gehminuten entfernte Kirche, um wie jedes Jahr, im 17 Uhr-Gottesdienst am Heiligen Abend, die bekannte Weihnachtsgeschichte (Lukas 2) vorzutragen:
„Es begab sich aber zu der Zeit…“.
Als ich an die Stelle kam: „Siehe, ich verkündige Euch eine große Freude…“, dachte ich: „Wird mir aber seltsam“. Mir wurde urplötzlich so abgrundtief schlecht, wie noch nie in meinen bisherigen 73 Lebensjahren und noch bevor ich mir weitere Gedanken machen konnte, fiel ich um und war bewusstlos.
Ich erwachte in einem Klinikbett, verklebt mit unzähligen Kabeln und umgeben von piepsenden und flimmernden Apparaten. Natürlich war mir sofort klar, wo ich mich befand, aber nicht warum!
Bei nächster Gelegenheit fragte ich eine Krankenschwester, wie ich hierher kam, die mich mit den Worten: „Na mit dem Krankenwagen“ liebevoll aufklärte. „Das hab ich mir schon fast gedacht“ entgegnete ich ironisch und fragte sie erneut genauer nach dem Grund. „Sie sind in der Kirche mit Herzversagen umgefallen“ erwiderte sie diesmal. „Wie?? Warum? In der Kirche???“ fragte ich ganz erstaunt, aber mehr wusste sie dazu nicht.
Mehr dagegen wussten meine zahlreichen Besucher, durch deren ausführliche Erzählungen ich erfuhr, was passiert war:
Im Rückspiegel seiner Orgel sah der Kantor, dass ich mitten im Satz umfiel, das Lesepult mit mir reißend und kam, zusammen mit einem Chormitglied, von der Orgelempore herunter gestürmt. Zu meinem Glück ist er seit über 30 Jahren ehrenamtlich beim Roten Kreuz tätig, gibt regelmäßig Laienunterricht und wusste sofort, was zu tun ist.
„Keine Atmung! Kein Puls!“ hieß es.
Aus der Sakristei wurde in Windeseile der AED (automatischer externer Defibrillator) geholt, mir wurde mein schwarzes Kleid aufgeschnitten, während die Wiederbelebung schon in vollem Gange war und der Notarzt verständigt wurde. „Achtung Schock!“ hallte es wieder und wieder in der Kirche.
Nach wenigen Minuten trafen Notarzt und Rettungswagen ein, von denen die Ersthelfer-Reanimation unmittelbar übernommen wurde. Trotzdem schienen alle Bemühungen umsonst zu sein. Mein Herz wollte einfach nicht wieder zu schlagen beginnen und die Reanimation sollte schon eingestellt werden, als ein erneuter Stromstoß das Kammerflimmern endlich beendete. Ein schwacher Puls war zu tasten, die Atmung setzte ein.
Schnell wurde ich in den Rettungswagen gebracht und in das naheliegende Krankenhaus gebracht. Doch das war lange nicht alles. Auf dem Weg dorthin und während meines Aufenthaltes auf der Intensivstation, begann mein Herz immer wieder erneut zu flimmern. Mir wurde ein implantierbarer Defibrillator eingebaut, aber dennoch hing mein Leben tagelang an seidenen Fäden:„Selbst wenn Frau Domeyer überleben sollte, wird sie sicherlich einen Schaden davon tragen“ waren die Worte des Professors. Zur Erholung meines Körpers wurde das künstliche Koma verlängert.
Als ich irgendwann Anfang Januar auf der Normalstation aufwachte, erinnerte ich mich an all das nicht. Nur noch an dieses schlimme Unwohlsein, bevor alles seinen Lauf nahm…
Es begannen mühevolle Wochen der körperlichen und geistigen Rehabilitation: Von Übungen zum Wiedererlangen der Sicherheit beim Gehen, Stehen, Treppensteigen und Radfahren, über Gedächtnis- und Reaktionstraining und logischem Denken bis hin zu psychosozialen Gesprächen. Die Reha war wirklich kein Zuckerschlecken, aber ermöglichte mir Anfang März die Rückkehr in mein normales Leben:
Ich wohne wieder in meinem großen Haus mit Garten, pflege meine Katzen, fahre Auto und habe alle meine ehrenamtlichen Tätigkeiten wieder aufnehmen können. Geändert hat sich also nichts, nur mein Kurzzeitgedächtnis lässt mich manchmal im Stich, aber das haben Andere in meinem Alter ja auch! Aufschreiben hilft gegen das Vergessen. Wozu hat man denn einen Kalender!?
Und das alles verdanke ich der glücklichen Fügung an diesem Heiligen Abend: zum einen, dass überhaupt ein AED vorhanden war und zum anderen, dass Leute anwesend waren, die sich damit auskennen.
Ein paar Jahre zuvor hatte sich unser Kantor und ehrenamtlicher Rettungssanitäter für die Anschaffung eines AEDs in der Kirche unserer Gemeinde stark gemacht, auch wenn sich die meisten der Notwendigkeit nicht so richtig bewusst waren. Nie hätte ich mir vorstellen können, dass ich die Erste sein werde, die ihn brauchen wird!
Nun ist der Gemeinde bewusst geworden, wie schnell es zu Ende gehen kann und wie wichtig eine unmittelbare Laien-Reanimation ist.
Ich wage gar nicht mir auszumalen, was wohl ohne unseren Kantor, den AED und die Gnade Gottes passiert wäre, an diesem 24.12.2014.